Demokratie in Deutschland 2011
Die Akzeptanz von Demokratie hängt auch davon ab, inwieweit wirtschaftliches Wachstum, sozialer Ausgleich und Nachhaltigkeit in Balance sind. Die Dynamik eines entfesselten Kapitalismus kann aber Demokratie, sozialen Ausgleich und Nachhaltigkeit zerstören. Entscheidend ist daher die demokratische Zähmung wirtschaftlicher Macht durch Teilhabe, Mitbestimmung und Kontrolle.
Wirtschaft und Demokratie
In den OECD-Staaten lassen sich eine wechselseitige Abhängigkeit und ein inhärentes Spannungsverhältnis von Demokratie und Marktkapitalismus beobachten. In der politischen Debatte konkurrieren die Theorien der libertären Demokratie und der Sozialen Demokratie um die Interpretation dieses Verhältnisses. Vertreter der Theorie der libertären Demokratie meinen, dass regulierende und ausgleichende Eingriffe in den Kapitalismus die Demokratie untergraben und den "Weg in die Knechtschaft" (F. v. Hayek) ebnen.
Vertreter der Theorie der Sozialen Demokratie hingegen argumentieren, dass nur durch sozialen Ausgleich und staatliche Regulierung die Krise des Kapitalismus begrenzt werden kann. Nur so wird die Stabilität von Demokratien gesichert. Wesentliche Säule der Sozialen Demokratie ist, dass ökonomische und gesellschaftliche Entscheidungen nicht durch den ungezügelten Markt oder den Einfluss der wirtschaftlich Mächtigen, sondern durch demokratische Prozesse basierend auf sozialen Grundrechten entschieden werden, an denen alle in der Gesellschaft gleichermaßen partizipieren können. Ein ausgeglichenes Verhältnis wirtschaftlichen Wachstums, sozialen Ausgleichs und Nachhaltigkeit trägt zur Akzeptanz von Demokratie seitens der Bevölkerung bei.
Im Rahmen dieser grundsätzlichen Debatte stellt sich die Frage, welche aktuellen Trends im Spannungsfeld zwischen Demokratie und Marktkapitalismus zu beobachten sind. In der Bundesrepublik Deutschland ist eine zunehmende Spreizung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu beobachten. Vor dem Hintergrund einer seit mehreren Jahren zunehmenden sozialen Ungleichheit stellt sich die Frage, wie viel Ungleichheit auf lange Sicht für eine Demokratie verträglich ist. Des Weiteren weisen empirische Befunde darauf hin, dass mit der 2008 begonnenen Weltwirtschaftskrise das Systemvertrauen in demokratische Institutionen weiter erodiert und es eine wachsende Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft gibt.
So ist eine zunehmende wirtschaftliche Machtkonzentration zu verzeichnen, die die Gefahr illegitimen politischen Einfl usses durch Lobbyismus verstärkt. Jenseits einer legitimen Interessenvertretung, die zum Wesen der Demokratie gehört, ist in den vergangenen Jahren eine vermehrt konflikthafte Durchsetzung eng definierter Interessen zu verzeichnen.
Im Zeitalter der Globalisierung zeigen sich außerdem eklatante Demokratiedefizite im derzeitigen Global-Governance-System bei Versuchen, Lösungen für das globale Marktversagen zu fi nden. Dabei zeigt sich, dass es im globalen Kapitalismus neuer und dringender Regelungen, unter anderem zum Klimaschutz und auf den internationalen Finanzmärkten, bedarf. Die entsprechenden internationalen Organisationen haben jedoch keine entsprechende Gestaltungsmacht und ihre Entscheidungsmechanismen weisen erhebliche Demokratiedefizite mit deutlichen Verzerrungen zugunsten der wirtschaftlich starken Länder auf.
Nicht nur die makroökonomische Perspektive, sondern ebenfalls die mikroökonomische Sicht der Betriebe und deren Demokratisierungsbestrebungen durch Mitbestimmung gilt es in den Fokus zu nehmen. Betriebliche Mitbestimmung ist ein zentrales Element demokratischer Teilhabe am Wirtschaftsleben. Die Demokratisierung der Wirtschaft hängt maßgeblich von den dafür geschaffenen Institutionen ab. Denn Institutionen ermöglichen anders als situative und personenzentrierte Systeme der Kontrolle und Beteiligung eine dauerhafte, regelorientierte Rechtsstruktur, die unabhängiger von den jeweiligen Kräfteverhältnissen wirken kann. Dafür, dass die Institutionen der Mitbestimmung als Basis von Konsensfindung bei unterschiedlichen Interessenlagen funktionieren, bedarf es nicht nur rechtlicher und materieller, sondern auch ideenpolitischer Ressourcen, die immer wieder neu aufgestellt werden müssen. Die deutsche Demokratie steht gegenwärtig vor einem Paradoxon: Einerseits ist die gesellschaftliche Akzeptanz einer qualitativen Beteiligung und Zähmung wirtschaftlicher Macht so groß wie in der Geschichte des deutschen Kapitalismus selten zuvor, andererseits sind die Institutionen, die dafür vorgesehen sind, so schwach wie kaum zuvor. Ursache dieser Diskrepanz ist die zunehmende Dominanz des Shareholdervalue-Kapitalismus, bei dem allein die Kapitaleigentümer nach ihren jeweiligen kurzfristigen Eigeninteressen entscheiden. Für einen Stakeholder-Kapitalismus im Sinne der Sozialen Demokratie aber müssen die Institutionen der Mitbestimmung als zentrale Elemente demokratischer Teilhabe am Wirtschaftsleben gestärkt werden.