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Demokratie in Deutschland 2011

Unter den Bedingungen der Globalisierung ist das Primat der Politik
einer globalen Interdependenz politischer Akteure gewichen.

Primat der Politik

Wie groß ist der Handlungsspielraum der Politik in einer globalisierten Wirtschaft? Kann man heute noch von einem Primat der Politik sprechen? Mit der zunehmenden internationalen Durchdringung nationaler Demokratien und Volkswirtschaften hat die Politik die Kontrolle über wesentliche Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft verloren. Aus dem Primat der Politik wurde in vielen Fällen eine Interdependenz von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.

Die wissenschaftliche Diskussion befasst sich seit geraumer Zeit mit der Transformation des Staates. Der demokratisch verfasste Interventionsstaat, der von klaren Funktionen und Herrschaftsansprüchen gekennzeichnet war, erhält eine neue Funktion gegenüber Gesellschaft und Markt. Unbestritten ist, dass sich das Verhältnis von demokratischer Politik, Zivilgesellschaft und Unternehmen in den letzten Jahrzehnten rapide verändert hat. Dabei geht es im Wesentlichen um die Handlungsfähigkeit staatlicher Repräsentanten – also der Politik – gegenüber nichtstaatlichen Akteuren in Gesellschaft und Wirtschaft. Im Hinblick auf die demokratische Legitimation politischer Entscheidungen wird die Lücke zwischen nationaler sowie subnationaler Legitimierung parlamentarischer Entscheidungen und der Reichweite der Entscheidungen von Exekutiven immer größer.

Seit den frühen 1980er Jahren prägen drei wesentliche Entwicklungen die Transformation von Politik und Markt. Erstens haben die Liberalisierung und Globalisierung von Wirtschafts- und Finanztransaktionen das Handeln von Unternehmen von Regulierungen befreit und damit die Reichweite von Politik beschnitten. Zweitens haben politische Akteure selbst die Funktionsweise nationaler Märkte durch Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung nachhaltig verändert. Und drittens haben sich politische Entscheidungsprozesse selbst internationalisiert. Alle drei Entwicklungen schränken nationale Regierungen in ihrem Handlungsradius ein und erzwingen neue Formen der internationalen Kooperation zwischen nationalstaatlich legitimierten Regierungen. Das Primat der Politik ist zu einer Interdependenz verschiedener Akteure in unterschiedlichen Arenen geworden. In den meisten Fällen sind es zwar immer noch die Nationalstaaten, die die Zügel in der Hand halten. Sie können aber immer weniger unilateral und ohne Absprache mit anderen Staaten handeln.

Die Transformation des keynesianischen Wohlfahrtsstaats zu einer selektiv marktliberalen Ökonomie und von einer nationalen zu einer globalisierten politischen Ökonomie hatte für die Funktion des Staates tiefgreifende Folgen. Während auch in der Phase der Vermarktlichung gemischter Ökonomien der Staat weiterhin in die Wirtschaft eingriff und über Steuern, Subventionen und Regulierungen weite Teile des Marktgeschehens beeinfl usste, geschah dies nicht mehr aus einem Steuerungsinteresse. Die Politik geriet als zentrale Regelsetzungs- und Gewährleistungsinstanz angesichts komplexer Steuerungsanforderungen unter Druck. Sie zeigte sich unfähig bzw. unwillig, auf Steuerungsanforderungen aus der Gesellschaft zu reagieren oder deren Umsetzung zu garantieren, weil ihr die erforderliche Expertise, Flexibilität oder andere notwendige Ressourcen fehlten. Zunehmend griff der Staat auf Kompetenzen und Ressourcen privater Akteure zurück. Damit verschob sich das Gewicht vom Primat der Politik, vertreten durch die Wirksamkeit nationalstaatlicher Politik, zu einer Politik der Abstimmung interdependenter Akteure.

Mit der Rettung des Kapitalismus in der Finanzkrise wurde der Nationalstaat wieder in den Mittelpunkt wirtschaftspolitischer Steuerung gerückt. In den westlichen Industrieländern hat der Nationalstaat Stärke und Handlungsfähigkeit demonstriert. Nationale Regierungen und Parlamente haben Gesetze mit erheblichen Konsequenzen für den Staatshaushalt, Eingriffe in die Eigentumsrechte von Banken und Unternehmen oder die vollständige Reorganisation der Finanzaufsicht teils im Schnellverfahren verabschiedet. In Deutschland wurden die gesetzlichen Maßnahmen zur Finanzmarktstabilisierung und Restrukturierung vom Bundeskanzleramt, dem Finanzministerium, der Bundesbank und der Finanzaufsicht formuliert, während dem Parlament zumeist nur die Rolle blieb, den Maßnahmen ohne umfassende und grundlegende Debatte im Eilverfahren zuzustimmen.

Die Rahmenbedingungen für das staatliche Handeln unterscheiden sich heute jedoch fundamental von der Blütezeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Zwänge, denen Nationalstaaten im globalen Kapitalismus unterliegen, sind erdrückend. Die Eingriffe von Regierungen in die Ökonomie beeinflussen die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts und ihrer nationalen Industrie. Gleichzeitig können viele Maßnahmen nicht mehr von einer Regierung allein umgesetzt werden, sondern Regulierungen, Steuerpolitik und Konjunkturprogramme sind abhängig von den Entscheidungen anderer Länder. Wirtschaftliche und regulative Interdependenz sind damit die wesentlichen Bedingungen staatlichen Handelns. Gerade weil ökonomische Interdependenz staatliches Handeln einschränkt, ist es wahrscheinlich, dass der Staat auch in Zukunft die gerade eroberten Instrumente als Mittel der Wirtschaftspolitik weiterhin sich selbst vorbehalten wird.

Die Krisenverarbeitung wird noch eine lange Zeit in Anspruch nehmen, währenddessen wird der Umbau der Weltwirtschaft voranschreiten. Insbesondere der Wettbewerb zwischen den OECD-Ländern und den Schwellenländern wird diese Dynamik weiter anfachen. Die derzeit nur unterschwellig geführte Diskussion über ökonomische Ungleichgewichte zwischen exportorientierten Ländern mit hohen Außenhandelsüberschüssen und Defi zitländern wird im Laufe der Zeit die Regulierungs- und Konsolidierungsdebatten stärker bestimmen.

Der Staat und damit die Politik wird in diesen Debatten eine wichtige Rolle einnehmen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Staat gerade in Fragen der Währungs- und Außenhandelspolitik sein Terrain weiter behaupten wird. Das Primat der Politik, das Nationalstaaten zu Zeiten kontrollierbarer nationaler Volkswirtschaften noch behaupten konnten, wird jedoch auf absehbare Zeit unter dem Vorzeichen globaler Interdependenz zu betrachten sein.