Startseite » Unsere Themen » Partizipation und Inklusion

Demokratie in Deutschland 2011

Konventionelle Formen politischer Partizipation sind rückläufig. Damit verbunden ist eine Zunahme sozialer Selektivität festzustellen. Direktdemokratische Verfahren und zivilgesellschaftliches Engagement werden oft als Mittel gegen die Politikverdrossenheit angeführt, die soziale Selektivität ist hier jedoch noch stärker ausgeprägt. Abhilfe verschaffen können die Einführung einer Wahlpflicht sowie die Schärfung des programmatischen Profils der Volksparteien.

Partizipation und Inklusion

Untersucht man die Veränderung politischer Partizipation in den letzten zwei Jahrzehnten, stechen drei Befunde hervor.

Die Wahlbeteiligung bei den letzten Bundestagswahlen im Jahr 2009 lag mit 70,8 Prozent unter dem westeuropäischen Durchschnitt in der gegenwärtigen Dekade. Vernachlässigt man die Krisenwahl von 2009, lässt sich der Rückgang der bis dato ungewöhnlich hohen Wahlbeteiligung in Deutschland im internationalen Vergleich allerdings als Normalisierung interpretieren.

Die Partizipations-Repräsentations-Lücke hat sich in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt vergrößert. Wenn sich Angehörige der unteren Schichten seltener als andere Bevölkerungsgruppen an Wahlen beteiligen, dann hat dies erhebliche Konsequenzen für die Repräsentation ihrer Interessen. Das politische Gleichheitsprinzip wird ausgehöhlt. In den letzten zwei Jahrzehnten ist in Deutschland also nicht nur die Wahlbeteiligung zurückgegangen, sondern auch die soziale Selektivität der verbliebenen Wahlbeteiligung hat zu Ungunsten der unteren Einkommens- und Bildungsschichten zugenommen.

Die großen Volksparteien leiden unter einem massiven Mitglieder- und einem deutlichen Wählerschwund. Dies hat negative Folgen für die Demokratie: Die Repräsentationsfunktion der Parteien nimmt ab, die Regierungskoalitionen werden instabiler, und die Integrationsfähigkeit des gesamten Parteiensystems nimmt ab. Mit der zunehmenden Zahl von Koalitionspartnern steigen notwendig die Transaktionskosten politischen Entscheidens. Demokratisches Regieren wird inkohärenter, instabiler, ineffizienter und blockadeanfälliger.

Die konventionelle politische Partizipation ist zurückgegangen. Die empirischen Befunde sind eindeutig. Um die Demokratie widerstands- und anpassungsfähig zu machen gegenüber den Herausforderungen im 21. Jahrhundert, muss über Reformen nachgedacht werden. Hierfür möchten wir vier Reformvorschläge in den Blick nehmen.

Der Rückgang konventioneller politischer Beteiligung kann prinzipiell auch in repräsentativen Demokratien durch Elemente direkter Partizipation ausgeglichen werden. Im Sinne der partizipativen Demokratie lässt sich dies sogar als Qualitätszuwachs interpretieren: Die Bürger mischen sich ein, bestimmen direkt mit und beginnen, sich selbst zu regieren. Trotz aller positiven Aspekte, verstärken diese Elemente in aller Regel die Tendenz zur Exklusion der unteren Schichten aus der politischen Sphäre. Insofern stärkt die vermehrte zivilgesellschaftliche Aktivität auch den Mittel- und Oberschichtcharakter unserer Demokratie. Zugespitzt formuliert: Die verstärkten zivilgesellschaftlichen Aktivitäten verschärfen gerade die Exklusionskrankheit unserer Demokratie, die sie eigentlich heilen sollen.

Referenden können eine vitalisierende Komplementärwirkung auf die repräsentativen Demokratien von Flächenstaaten entfalten. Allerdings verschärfen Volksentscheide die soziale Selektion, schließen die wenig informierten Bürger noch stärker aus als allgemeine Wahlen, sind abhängig von finanziellen und organisatorischen Kampagnenressourcen und stark ergebniskonservativ. Wer Volksentscheide vor allem initiiert und in ihnen abstimmt, ist kein repräsentativer Querschnitt oder gar "das Volk" selbst. Es sind die höheren Schichten, die ihre Interessenrepräsentation weiter auf Kosten der unteren Schichten ausdehnen.

Mit der Wahlpflicht existiert ein Mechanismus, der die Wahlbeteiligung massiv anhebt und die soziale Verzerrung stark reduziert. Sie wurde in vielen Ländern praktiziert und existiert in Europa bis heute in Griechenland, Luxemburg, Belgien und Zypern, weltweit in über 30 Ländern. In diesen Ländern ist die soziale Selektion sichtbar geringer als in den Ländern ohne Wahlpflicht. Zugunsten der demokratischen Gleichheit findet ein Eingriff in die individuelle Wahlfreiheit statt. Auch wenn dieser Eingriff sicherlich minimal ist, ist die Problematik nicht völlig von der Hand zu weisen. Der demokratietheoretische Gütertausch heißt: minimale Freiheitseinschränkung gegen beachtliche politische Gleichheitsgewinne.

Studien haben gezeigt, dass die Ausdifferenzierung des programmatischen Angebots der zur Wahl stehenden Parteien einen positiven Einfluss auf den Mobilisierungsgrad der Wähler hat. Je deutlicher die Parteien unterscheidbar sind, umso höher ist die Wahlbeteiligung. Wenn die Wähler den Eindruck haben, zwischen klar erkennbaren Alternativen auswählen zu können, nehmen sie auch verstärkt an Wahlen teil. Insbesondere Volksparteien, die an ihrer Außenflanke relevante Konkurrenten haben, wie dies bei der SPD mit der "Linken" und den "Grünen" der Fall ist, brauchen eine programmatische Schärfung. Eine solche Schärfung muss allerdings Kontinuität und Glaubwürdigkeit suggerieren und darf nicht situationistischen Oszillationen geopfert werden.

Wenn man die politische Partizipation als Kernstück der Demokratie erhalten und regenerieren will, müssen die Reformanstrengungen mindestens drei Gütekriterien genügen: Sie müssen die Intensität, die Chancengleichheit und die Inklusion steigern. Die größte Schieflage in Deutschland und den meisten westlichen Demokratien ist gegenwärtig die klassen- und bildungsspezifische Exklusion. Deshalb sind wünschenswerte Vitalisierungen auf der Seite der zivilgesellschaftlichen und direktdemokratischen Gelegenheitsstrukturen stets mit belebenden Reformen der repräsentativen Demokratie zu komplementieren. Geschieht das nicht, verschärft das größere direktdemokratische und zivilgesellschaftliche Gewicht die soziale Exklusion und damit das eigentliche Leiden der entwickelten Demokratien zu Beginn des 21. Jahrhunderts.